Realisieren, dass es vorbei ist

Besonders extreme Formen erlebter Gewalt hinterlassen schwerwiegende Traumatisierungen mit komplexen Folgen. Eine dreistufige Therapie hilft Betroffenen, das Erlebte zu verarbeiten und die belastenden Gefühle zu kontrollieren.

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung ist eine besonders schwere Form der posttraumatischen Belastungsstörung. Sie entsteht nach mehrfach aufgetretener seelischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt, häufig über mehrere Jahre in der Kindheit beginnend, aber auch nach anhaltenden traumatischen Erlebnissen im Erwachsenenalter – wie z. B. Konzentrationslager, Kriegsgefangenschaft, Geiselnahme oder Folterung. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Formen zwischenmenschlicher Gewalt.

Ein traumatisches Erlebnis ist ein seelischer Schock und beschreibt ein Ereignis, das außerhalb der normalen menschlichen Erfahrung liegt. Dadurch wird es als äußerste Bedrohung wahrgenommen. Die traumatisierte Person durchlebt eine oder mehrere Extremsituationen, auf die sie – gerade auch als Kind – nicht angemessen vorbereitet ist und die jegliche Bewältigungskompetenzen überfordern.

Belastende Erfahrungen, die zu Kontrollverlust führen

Schwerwiegende Traumatisierungen oder sequentielle (wiederkehrende) Traumata – wie sexualisierte Gewalt und/oder körperliche Misshandlung in der Kindheit, mehrfache Gewalterfahrungen in der Partnerschaft, politische Verfolgung oder Kriegserfahrungen – sind für jeden Menschen belastend. Sie gehen mit Angst, Schrecken, Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit einher. Schließlich kommt es zu Kampf- oder Fluchtimpulsen, denen meist nicht gefolgt werden kann, da keine ausreichende Kontrolle über die Situation besteht. Eine häufige Folge ist dann die Unterwerfung.

Unverarbeitete Traumata behindern Entwicklung

Manchmal entsteht nach einem solchen Trauma ein Gefühl, als wäre es nicht geschehen oder alles wäre nur ein schlechter Traum gewesen. Komplex traumatisierte Menschen erinnern sich meist nur diffus an die Traumatisierungen. Sie haben ausgeprägte dysfunktionale Überzeugungen von sich, anderen Menschen und der Welt sowie eine erhöhte Dissoziationstendenz und leiden vermehrt unter seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Bleiben die Erlebnisse unverarbeitet, können sie als Erinnerungssequenzen in Form von Flashbacks über die Betroffenen hereinbrechen. Traumata können damit die Lösung zukünftiger Entwicklungsaufgaben, insbesondere bei Heranwachsenden, nachhaltig behindern.

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung wird auch als DESNOS bezeichnet, womit eine Störung nach Extrembelastung gemeint ist. Durch die Traumatisierungen kommt es zu einer Erschütterung des Selbst- und des Weltverständnisses.

Erinnerungsdruck, Überregung, Vermeidung

Zu den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung gehört der sogenannte Erinnerungsdruck. Das bedeutet, dass die traumatischen Erinnerungen an die belastenden Ereignisse sich in Form von Wiedererleben oder Nachhallerinnerungen (Flashbacks) aufdrängen und somit immer wieder sehr belastend sind. Diese Form der traumatischen Erinnerung verblasst nicht so wie andere Erinnerungen, sondern sie erweckt den Eindruck, als sei die Person wieder in dem Erleben wie zum Zeitpunkt der Traumatisierung. Dazu gehören sich wiederholende traumabezogene Träume im Sinne von Albträumen, auftauchende Bilder oder auch Körpersensationen.

Eine weitere Symptomgruppe ist die chronische Übererregungssymptomatik, die sich in Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, übermäßiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit äußert. Die Symptomgruppe der emotionalen Taubheit und Vermeidung führt zu allgemeinem Rückzug, Interessenverlust und innerer Teilnahmslosigkeit. In der Folge werden Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, versucht zu umgehen. Die Betroffenen vermeiden außerdem Gedanken, Gefühle, Tätigkeiten und Situationen, die sie an das Trauma erinnern. Es kommt zu Entfremdungsgefühlen, Hoffnungslosigkeit und einem eingeschränkten Gefühlsspielraum.

Begleiterscheinungen der komplexen Belastungsstörung

Dissoziationen sind ein natürlicher Schutzmechanismus in traumatischen Situationen. Diese führen zu Abwesenheitszuständen und auch zu Erinnerungslücken. Durch den anhaltenden Stress werden auch Körperfunktionen gestört, so dass es gehäuft zu Autoimmunerkrankungen oder auch Atemwegserkrankungen kommen kann. Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung ist fast immer mit anderen Störungsbildern vergesellschaftet wie z. B. Essstörungen, Suchtstörungen, dissoziativen Störungen, Angststörungen, Schmerzstörungen oder auch einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Komplex traumatisierte Menschen zeigen eine gestörte Affekt- und Impulsregulation, so dass sie ihre Gefühle nur schwer regulieren können. Dadurch können in zwischenmenschlichen Interaktionen leicht Ärger und Zorn, aber auch selbstzerstörerische Impulse ausgelöst werden. Des Weiteren treten dissoziative Störungen auf, die sich in Aufmerksamkeitsstörungen, Bewusstseinstrübungen, Amnesien und Depersonalisationserleben manifestieren. So entstehen sowohl ein beeinträchtigtes Identitätsgefühl mit der Überzeugung, ein irreparabel beschädigtes Leben zu führen und für das Scheitern selbst verantwortlich zu sein, als aus permanente Schuld- und Schamgefühle. Darüber hinaus können interpersonelle Störungen in Form einer gestörten Wahrnehmung des Täters auftreten, die bis zu dessen Idealisierung gehen oder andererseits in eine exzessive Beschäftigung mit Rachephantasien münden kann.

All diese Begleiterscheinungen machen es komplex traumatisierten Menschen nahezu unmöglich, gleichberechtigte Beziehungen eingehen. Zusammen mit einem exzessivem Risikoverhalten laufen sie deshalb Gefahr, erneut Opfer von Gewalt zu werden (Reviktimisierung). Nicht zuletzt entsteht ein allgemeiner Sinnverlust mit Gefühlen von Verzweiflung und dem Verlust früherer Werte, dem Verlust von Hoffnungen und stabilisierenden Überzeugungen.

Wie behandeln wir Menschen nach sequentieller Traumatisierung?

In der Behandlung der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und anderer Psychotraumafolgestörungen lehnen wir uns an die AWMF-Leitlinien an: Die psychotraumatherapeutische Arbeit erfolgt je nach den Möglichkeiten der Patienten und Patientinnen in drei Phasen: Stabilisierung (Stabilisierungsphase), die Durcharbeitung der traumatischen Erinnerungen (Konfrontationsphase) und die Integration der Traumata sowie der Neubeginn mit Ausrichtung auf die Gegenwart und Zukunft (Integrationsphase). Dabei kann allein die Stabilisierungsphase viel Zeit beanspruchen, bevor die Patientinnen und Patienten so stabil sind, um sich mit den angstauslösenden Erinnerungen auseinandersetzen zu können.
Nach einer ausführlichen Diagnostik wird ein individueller störungsspezifischer Therapieplan mit einer hochfrequenten Einzelpsychotherapie festgelegt.

Behandlungsfokus

In der Stabilisierungsphase ist der Fokus auf eine Verbesserung des Krankheitsverständnisses (Psychoedukation) und auf Verbesserung der körperlichen und psychischen Stabilität gerichtet. Hierzu zählt die Vermittlung von Fertigkeiten zur Reorientierung bei Traumaerinnerungen, traumaassoziierten Gefühlen und Körperreaktionen bzw. der Kontrolle der Auslöser. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Veränderung selbstschädigender Handlungen (z. B. Zufügen von Schnittwunden, gestörtem Essverhalten, Suchtmittelkonsum) und das Lernen von selbstwertstabilisierenden Strategien zur Gefühlsregulation. Meist werden dazu gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten Verhaltensverträge erarbeitet.

Leiden Betroffene unter dissoziativen Symptomen, vermitteln wir zusätzlich Strategien zur Unterbrechung dysfunktionaler Dissoziationen, um einen verbesserten Realitätsbezug herstellen zu können (z. B. durch Techniken des Dissoziationsstopps, Achtsamkeitsübungen, Imaginationen). Ferner sehen wir es als besonders wichtig an, auf vorhandene Ressourcen zu fokussieren bzw. Ressourcen zu erarbeiten und diese für die Patientinnen und Patienten erlebbar zu machen. Die Therapie ist grundsätzlich störungsspezifisch und individuell angepasst. Wir verstehen Dissoziationen und andere dysfunktionale Verhaltensweisen als Kompensationsmechanismen und Überlebensstrategien, die einmal hilfreich waren, aber jetzt störend und überflüssig sind.

Sind ein Grundverständnis der vorhandenen Symptomatik und eine ausreichende innere und äußere Stabilität erarbeitet, beginnen wir mit der schrittweisen Auseinandersetzung mit den traumatischen Erinnerungen durch sanfte und ressourcenorientierte Techniken. Dies erfolgt aber erst dann, wenn dies von den Betroffene gewünscht wird und sie alle Behandlungsvoraussetzungen für diese schwierige Aufgabe (Konfrontationsphase) erfüllen.

Traumaexposition: Realisieren, dass es vorbei ist

In dieser Therapiephase arbeiten wir mit verschiedenen Traumaexpositionsmethoden: IRRT, Screen-Technik, EMDR, die individuell für die Patientinnen und Patienten abgewandelt werden können, um ein optimales Behandlungsergebnis zu erreichen. Während dieser Traumaexposition sollen sowohl die Realisierung des traumatischen Ereignisses, als auch das Gefühl, dass es vorbei ist, gefördert werden. Dabei und danach kommt es meist zu einer Trauerreaktion und manchmal auch zu einer vorübergehenden Symptomverstärkung. Diese lässt dann nach, wenn das Ereignis in die eigene Lebensgeschichte und Persönlichkeit integriert ist und eine gute Selbstfürsorge während dieser Auseinandersetzung eingeübt werden konnte.

In der abschließenden Integrationsphase erarbeiten wir Voraussetzungen und Ziele für ein normales Alltagsleben und eine Rückfallprophylaxe und vollziehen den Abschied von der stationären Therapie und der Übergang in den Alltag.

Die optimalen Rahmenbedingungen für eine solche intensive störungsspezifische Psychotraumatherapie sind eine gute und ausreichend lang andauernde ambulante störungsspezifische Psychotraumatherapie und die Einbindung der Patientinnen und Patienten in ein Helfernetz. Manchmal sind auch stationäre Wiederholungsbehandlungen zur Intensivierung des Therapieprozesses nötig.