Wenn Essen zur Qual wird
Oft treten nach Traumatisierungen auch Störungen des Essverhaltens auf, was den Körper zusätzlich unter Stress setzt. Gemeinsame Mahlzeiten und Gruppentherapien helfen dabei, wieder Halt und Struktur zu finden.
Bei Psychotraumafolgestörungen ist Komorbidität (das gleichzeitige Vorliegen mehrerer Störungen) eher die Regel als die Ausnahme. Essstörungen gehören hierbei zu den am häufigsten diagnostizierten Störungen. Dazu gehören Anorexie, Bulimie und Binge Eating-Störung, aber auch jene Schwierigkeiten mit dem Essen und dem Körper, die nicht die vollen Kriterien für eine Störung erfüllen.
Insbesondere nach komplexen Traumatisierungen entwickeln Menschen oft Störungen des Essverhaltens. Diese können als Bewältigungsversuche im Umgang mit belastenden und überwältigenden Gefühlen im Zusammenhang mit den erlittenen Traumatisierungen verstanden werden. Das veränderte Essverhalten kann dann der Versuch sein, seine Gefühle zu regulieren, die Kontrolle angesichts erlittener Ohnmachts- und Hilflosigkeitserlebnisse zu bewahren, Grenzen zu setzen oder sich zu beruhigen.
Negative Erfahrungen mit Essen können lange nachwirken
Für viele Psychotraumapatientinnen und -patienten ist auch das Thema Essen an sich mit negativen Erinnerungen verbunden. Ursächlich dafür kann z. B. sein, dass in der Kindheit oft Konflikte über das Essen ausgetragen wurden, dass der Esstisch Schauplatz von Gewalt war oder Essen als Bestrafung eingesetzt wurde. Durch traumaasoziierte Reize ist Essen auch oft mit Ekel und Scham besetzt. Hinzu kommt, dass ein chronisch erhöhtes Anspannungsniveau – wie es bei vielen Psychotraumapatientinnen und -patienten der Fall ist – das Essen zusätzlich erschwert. Viele Betroffene haben so nie gelernt, was es bedeutet, angstfrei und entspannt zu essen.
Gefahr schwerwiegender körperlicher Veränderungen
Als ursprünglicher Bewältigungsversuch im Umgang mit Psychotraumafolgen entwickeln Essstörungen meist schnell eine Eigendynamik. Restriktives Essen, zunehmend längere Listen „verbotener“ Lebensmittel, sowie gegenregulatorische Maßnahmen (wie z. B. Erbrechen, exzessiver Sport, Abführmittel) weiten sich immer mehr aus und erschweren so zunehmend ein stabiles Alltagsleben – was zu großem Leidensdruck führt. Ein willentliches Gegensteuern ist ab einem gewissen Punkt meist nicht mehr möglich. Nicht nur Verhalten und Erleben ändern sich in einschneidender Weise (u. a. durch zunehmenden Rückzug, übermäßige Beschäftigung und Einengung des Denkens auf Figur und Gewicht, emotionale Labilität, Depression), sondern auch der Körper selbst. Gerade diese körperlichen Veränderungen können gravierende Folgen haben – von Störungen des Sättigungsgefühls und der Körperwahrnehmung bis hin zu lebensbedrohlichen Störungen des Herz-Kreislaufsystems, des Hormon- und Elektrolythaushalts und teilweise irreversiblen Organschädigungen.
Wie behandeln wir Essstörungen?
Ziel der Therapie: wieder mehr Selbstfürsorglichkeit erreichen
Die Normalisierung des Gewichts sowie die Wiederherstellung eines geregelten Essverhaltens ist deshalb vorrangiges Ziel unserer Behandlung. Für viele Patientinnen und Patienten, die nie selbstfürsorglich mit sich umgegangen sind, ist dies schwierig zu erreichen. Hier kann hilfreich sein, das Essen als notwendige Medizin zu sehen. Nach der (Wieder-)Herstellung eines ausreichend stabilen körperlichen Zustandes und der hinreichenden Normalisierung des Essverhaltens können wir in der Therapie dazu übergehen, an den zugrunde liegenden Problembereichen zu arbeiten, damit sich die Betroffenen mit ihren traumatischen Erinnerungen auseinandersetzen können.
Die Behandlung einer Essstörung findet eingebettet in einen Gesamtbehandlungskontext statt: Neben der durchweg gesicherten medizinischen Betreuung besteht die Therapie aus einer individuell angepassten Kombination von Einzel- und Gruppentherapien. Dazu gehören die Teilnahme an Struktur und Halt gebenden gemeinsamen Mahlzeiten und ein breites Angebot an Gesprächstherapien und nonverbalen Therapien, in denen wir auf verschiedenen Ebenen auch an einem selbstfürsorglicheren Umgang mit dem Körper arbeiten. Spezifisch auf Essstörungen ausgerichtet sind dabei die Essstörungsgruppe, die Esspedition und das Esstagebuch.
Behandlung nur bei stabilem körperlichen Zustand möglich
Diese Form der Psychotraumatherapie und die damit verbundene Auseinandersetzung mit belastenden Gefühlen ist anstrengend und erfordert einen ausreichend stabilen körperlichen Zustand. Befindet sich der Körper in einem Notzustand, bestehen keine ausreichenden Ressourcen, um sich mit emotional belastenden Inhalten auseinandersetzen und neue Lernerfahrungen machen zu können. Deshalb erfordern Diagnosen wie gravierendes Unter- oder Übergewicht sowie sehr dysreguliertes Erbrechen im Vorfeld eine essstörungsspezifische Therapie, die wir im Rahmen von Vorgesprächen gern mit Ihnen besprechen und unter bestimmten Voraussetzungen bei uns durchführen. Ggf. ist eine solche Therapie aber bereits vor einer Aufnahme bei uns notwendig, d.h. gegebenenfalls auch ein Akutkrankenhausaufenthalt.